16. Juli 2020
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Die Wehrpflicht wieder einführen?

Die Neubelebung der Diskussion um die Wehrpflicht durch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Högl wurde als mehr oder weniger cleveres Ablenkungsmanöver bewertet. Das öffentlichkeitswirksame Thema Wehrpflicht ist sehr vielschichtig, vor allem trifft politisches Phantasiedenken knallhart auf praktische Realität.

Offenbar liegen Wünschenswertes und Machbares weit auseinander, genau wie die Meinungen und Standpunkte zu diesem reizenden Thema. Wehrverwaltung und Wehrpflicht haben sehr viele gemeinsame Bezugspunkte, weshalb wir ein wenig recherchiert haben.

Die alte Wehrpflicht wird heute verklärt betrachtet

Schon bei der Einführung der Wehrpflicht in der jungen Bundesrepublik Deutschland gab es recht heftige Auseinandersetzungen, denn dieser bis zu eineinhalb Jahren lange Zwangsdienst stellte einen sehr schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte junger Männer dar. Glaubt man zeitgenössischen Quellen, war dies nur aufgrund der existenziellen Bedrohung Deutschlands im kalten Krieg zu rechtfertigen. Heute wäre das damalige Rollenverständnis undenkbar, tatsächlich wurden beispielsweise Frauen konsequent diskriminiert, sie durften keinen Wehrdienst leisten.

Nicht nur deshalb war die militärische (!) Bundeswehr eine fast reine Männerangelegenheit, Frauen waren meist nur auf gesellschaftlichen Veranstaltungen als „Damen“ eingeladen und dann hatten sich die „Herren“ gefälligst dementsprechend zu benehmen! Im alltäglichen Dienstbetrieb erschien dagegen vieles einfacher, denn bei einer monogeschlechtlichen Ausrichtung tritt so manches ernste Problem einer „gemischten Veranstaltung“ nicht auf.

Einige unverbesserliche Romantiker wollen uns weismachen, wie schön es doch damals war, so am warmen Lagerfeuer im kalten Krieg, die herrliche Kameradschaft, das angenehme Soldatenleben als Staatsbürger in Uniform, das Erlernen von Disziplin und Gehorsam in der angeblichen „Schule der Nation“, untergebracht in liebevoll eingerichteten Sechser- oder Achterstuben. Fairerweise muss beim objektiven Rückblick zugegeben werden, dass die Wehrpflicht nicht nur den direkt betroffenen jungen Männern viele Probleme bereitet hat. Dennoch hatte die Wehrpflicht viele Freunde, und das jahrzehntelang. In den Zeiten des Kalten Krieges galt sie als Garant einer verteidigungsbereiten Gesellschaft. Sie war auch Rekrutierungsinstrument. Viele Wehrpflichtige blieben als Zeit- oder Berufssoldaten.

Ob in der Bundeswehr tatsächlich alle gesellschaftlichen Schichten vertreten waren, wie gerne kolportiert wird, wäre zu belegen, denn es gab ja auch noch den Dienst bei Feuerwehr und THW, nicht zu vergessen die bedauernswerten „Untauglichen“. Und was war mit den vielen „Verweigerern“, sprich Ersatzdienstleistenden, die häufig eher dem linksliberalen oder grünen Spektrum zuzuordnen waren? Zudem hat die Bundeswehr immer wieder mit Wehrdienstleistenden zu kämpfen gehabt, die eben kein individualistisch-demokratisches Ideal verfolgen, wie das ebenso prominente wie tragische Beispiel Uwe Mundlos vom „Nationalsozialistischen Untergrund NSU“ zeigt. Der frühere Wehrbeauftragte Bartels sagte dazu: „Also bei den Wehrpflichtigen haben wir natürlich nicht so genau hingeguckt, wer da kam.“ Festzuhalten bleibt, dass es alles andere als leicht ist, politischen Extremismus aus demokratischen Streitkräften konsequent fernzuhalten, den entscheidenden Unterschied zwischen wünschenswertem Patriotismus und unerwünschtem Nationalismus Tag für Tag überall vorzuleben und durchzusetzen.

„Dass es per Wehrpflicht gelingen soll, rechtsextreme Tendenzen bei Teilen der Bundeswehr zu stoppen, ist zweifelhaft. Auch zu Zeiten der Wehrpflicht gab es Berichte über fragwürdige Aufnahmerituale und nationalsozialistische Begrüßungen. Die Akademie der Bundeswehr analysierte von 1997 bis 2000 fast tausend Verdachtsfälle auf fremdenfeindliche und rechtsextreme Delikte. Die Mehrzahl begangen von Wehrpflichtigen in den ersten Dienstmonaten. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht bietet also keine Aussicht auf Besserung“ prognostiziert die Tageszeitung TAZ.

Jedenfalls hatte die Dienstpflicht enorme personelle und materielle Konsequenzen, denn es wurde aus heutiger Sicht unfassbarer Aufwand betrieben, von der Wehrerfassung über die Musterung, von der Einberufung bis zur Einkleidung, von der Ausrüstung bis zur Ausbildung, von der Unterkunft bis zur sanitätsdienstlichen Betreuung und so weiter, und so weiter. Deutschland war Frontstaat im kalten Krieg und das waren die Konsequenzen.

Die übrigens mit beachtenswertem Frauenanteil gesegnete Bundeswehrverwaltung hatte ebenfalls alle Hände voll zu tun, um den Wehrdienst zu ermöglichen und am Laufen zu halten. Es würde den ohnehin beachtlichen Umfang dieses Beitrages sprengen, wenn eine Erwähnung aller Aktivitäten erfolgen müsste. Offenbar hat sich der Aufwand staatsbürgerlich dennoch gelohnt. Die Tageszeitung „Rheinpfalz“ schreibt dazu: „Die Wehrpflicht war eine gute Sache. Sie verankerte die Bundeswehr in der Gesellschaft, und sie verschaffte den Streitkräften kontinuierlich Nachwuchs. Sie verpflichtete junge Männer dazu, auch über den Zivildienst etwas für die Gemeinschaft zu leisten.“

Eine Wehrpflicht muss man sich als demokratische Gesellschaft leisten können und wollen, denn volkswirtschaftlich ist das kein wohlfeiler Spaß. Sentimentale Träumer werden hinzufügen, leider ist der Bundeswehr am Ende sowohl die militärische Bedrohung als auch die notwendige Wehrgerechtigkeit abhandengekommen. Jedenfalls hat der gediente adlige Verteidigungsminister, der die Anfertigung seiner Dissertation outgesourct hat, nicht nur seinem Doktortitel, sondern auch dieser Wehrpflicht den Todesstoß gegeben. Für beide Untaten wird er heftig gescholten. Ausgewiesene Kenner der Materie behaupten jedoch, diese politische Entscheidung zur Aussetzung der Wehrpflicht sei jedoch so oder so alternativlos gewesen. Demgegenüber wird die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Högl (SPD) von den Zeitungen der Funke-Mediengruppe mit den Worten zitiert: “Ich halte es für einen Riesenfehler, dass die Wehrpflicht ausgesetzt wurde.“ Sie stieß damit jedoch überwiegend auf Ablehnung, auch in ihrer eigenen Partei. Die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans lehnen Überlegungen zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht ab. „Der Vorstoß beweise, dass Högl ihr neues Arbeitsgebiet noch nicht überblicke“, kommentierte bissig der Deutschlandfunk-Sicherheitsexperte Pindur.

Unterstützung erhielt die SPD-Politikerin dagegen von der AfD, dem Deutschen Bundeswehrverband und dem Reservistenverband. Der Präsident des Reservistenverbandes, Sensburg, sagte dem „Handelsblatt“, in Deutschland gebe es inzwischen eine breite Zustimmung für eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Es sei ein Fehler gewesen, sie abzuschaffen. Kann man so sehen, muss man aber nicht, wie nachfolgendes Zitat belegt. „So richtig es ist, braunem Gedankengut in der Truppe den Garaus zu machen, so sehr ist die Wehrbeauftragte dabei über das Ziel hinausgeschossen. Nötig sind eine gute politische Bildung und eine innere Führung, die falsch verstandener Kameradschaft keinen Freiraum lässt. Darauf sollte Högl ihre Energie verwenden, anstatt fruchtlose Debatten zu befeuern“, schlägt die Saarbrücker Zeitung vor

Es gibt keine Renaissance der alten Wehrpflicht

Jedenfalls wurde die Bundeswehr seit der Aussetzung der Wehrpflicht vollkommen andersartig organisiert, diese Erkenntnis wird gerne vergessen. Der ehemalige Präsident des Reservistenverbandes und CDU-Verteidigungsexperte Kiesewetter, MdB, sagt dazu im Interview mit dem Deutschlandfunk: „Die Bundeswehr hat heute nicht mal mehr die Infrastruktur, dies zu leisten. Zu Wehrpflichtzeiten hatten wir über 700 Kasernen, heute sind es 250.“

„Sie können nicht mehr nur die Männer einziehen. Dann müssen wir für 500.000 junge Menschen eine Struktur schaffen. Das gibt die Bundeswehr nicht her. Das wäre auch nach außen ein Zeichen einer Wiederbewaffnung oder einer stärkeren Einbindung der Bevölkerung in den Außenschutz. Das kann man machen, aber wir haben nicht diese Krisenzeiten. Das ist notwendig in Krisenzeiten. Deswegen ist die Wehrpflicht ja auch ausgesetzt und nicht aufgehoben. Ich bin ein Verfechter der Wehrpflicht, aber sie wurde systematisch über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ausgehungert und starb dann letztlich den Tod, als man sich auf sechs Monate Grundausbildung einigte in den Koalitionsverhandlungen 2009 und die Bundeswehr gesagt hat, mit neun Monaten können wir nicht in eine Hightech-Armee Menschen beschäftigen und können keine Auslandseinsätze leisten. Deshalb ist sie ja gestorben.“

Die Tageszeitung „Rheinpfalz“ meint: „Für die Aussetzung der Wehrpflicht war mehr oder weniger nur ein Federstrich nötig. Seither wurden bei der Bundeswehr die Ausbildungskapazitäten abgebaut, Standorte geschlossen. Die Kreiswehrersatzämter, die für die Musterung von Millionen junger Leute zuständig waren, sind Geschichte. Das alles müsste wiederaufgebaut werden. Das kostet enorm viel Zeit und viel Geld - und bringt militärisch kaum etwas, denn die Bundeswehr von heute hat keine Verwendung mehr für Massen an Wehrpflichtigen, die simple Aufgaben übernehmen. Was die Streitkräfte brauchen, sind alle möglichen Spezialisten.“

Gravierende rechtliche Bedenken gegenüber Pflichtdiensten

„Es ist verfassungsrechtlich fraglich, ob das Bundesverfassungsgericht sich heute mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht zu einverstanden erklären würde. Ich glaube wir hätten da große Probleme, unabhängig von den Fakten, die dagegensprechen. Sie müssen, wenn sie die Bundeswehr wieder zu einer Wehrpflichtarmee umstrukturieren wollen, den Umfang der Bundeswehr verdoppeln, und was das wiederum finanziell bedeutet, kann sich jeder an einer Hand abzählen. Das ist überhaupt nicht darstellbar.“ So der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Robbe (SPD) im Interview mit dem Deutschlandfunk. Namhafte Experten behaupten, auch das Europarecht stehe Pflichtdiensten erheblich entgegen. Schon im April wurde die Frage im Deutschlandfunk diskutiert: Wehrpflicht und andere Zwangsdienste – Was schulden wir dem Staat? Aus gutem Grund spricht sich deshalb die CDU-Bundesvorsitzende Kramp-Karrenbauer seit längerem für einen Freiwilligendienst aus.

Mit der Debatte um Dienstpflicht vom eigentlichen Problem abgelenkt

Die Zeitung „Frankenpost“ aus Hof kritisierte: „Es wäre sehr billig, wenn die Verantwortlichen in Verteidigungsministerium, Bundeswehr und Bundesregierung die jungen Menschen mit einem Zwangsdienst dafür bestrafen dürften, dass sie ihre ureigensten Angelegenheiten nicht im Griff haben. Sie stehen in der Pflicht, die Bundeswehr zu einem attraktiven Arbeitgeber für breite Schichten der Bevölkerung zu machen; nur so wird die Truppe bunter. Der Weg ist weit, schließlich kämpft die Bundeswehr nicht nur mit einem schlechten Ruf, sondern auch mit mieser Ausrüstung“, betonte die „Frankenpost“.

Der Kölner Stadt-Anzeiger führt aus: „Die Bundeswehr hat ein Problem mit rechtsextremen Netzwerken. Der Satz ist richtig und falsch zugleich: Deutschland hat ein Problem mit rechtsextremen Netzwerken. Und bei der Bundeswehr können sich Rechtsextreme anscheinend viel zu einfach Waffen und Munition verschaffen. Das Problem ist Jahrzehnte alt. Sicherheitsbehörden haben es jetzt erst – sträflich verspätet – erkannt. Was damit nichts zu tun hat: die Wehrpflicht. Netzwerke bilden sich vor allem in Spezialeinheiten mit ausgeprägtem Korpsgeist – etwa bei den Fallschirmspringern oder dem jetzt teilaufgelösten Kommando Spezialkräfte. Grundwehrdienstleistende kommen dort genauso wenig hin wie nach Afghanistan“, vermerkte der Kölner Stadt-Anzeiger.

Ein gelungenes Ablenkungsmanöver!

In einer konzertierten Aktion hat man das ansonsten hochgeachtete KSK davor bewahrt, in das mediale Sommerloch gestürzt zu werden und darin unterzugehen. Medial gekonnt und strategisch anerkennenswert clever wurde ein alternativer Diskussionszug auf das Gleis gesetzt. Die Presse wie die Öffentlichkeit sind bereitwillig umgestiegen, der Nostalgiezug mit dem Namen „Wehrpflicht“ ist aber schnell auf die mediale Nebenstrecke abgebogen.

Wehrpflicht wird zuvorderst militärisch verstanden, geht gesellschaftspolitisch allerdings weit darüber hinaus. Aus Sicht der Wehrverwaltung bleiben die Überlegungen zur Wehrpflicht sehr interessant. Wie eingangs beschrieben ist das Thema Wehrpflicht vielschichtig, tatsächlich trifft politisches Phantasiedenken auf praktische Realität. Viele Angehörige der Wehrverwaltung kennen diesen gewaltigen Unterschied noch aus eigenem Erleben. Deshalb hat sich der VBB diesem Thema in der vorliegenden Form angenommen und die Reaktionen beobachtet.

Unser Fazit: Bevor abstrakt über Wehrpflicht diskutiert und entschieden wird, müssen zuvor alle Fakten auf den Tisch, ein Stammtisch sollte es jedoch nicht sein…