23. September 2018

Digitalisierung – Zwischen Euphorie und Unverständnis - Erster Teil

Zugegeben, wenn Bundeswehrangehörige Signalbegriffe wie Nachjustierung, Modernisierung, Digitalisierung lesen oder hören, führt das leicht zu spontanem Bluthochdruck und gewisser Wallung. Das hat seine guten oder schlechten Gründe und denen geht der VBB nach. Lesen sie also in Ruhe und entspannt weiter.

Der VBB beschäftigt sich schon lange auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven mit dem Mega-Thema Digitalisierung, schließlich sind der VBB und seine Mitglieder unmittelbar betroffen, ja „mega“ betroffen. Es ist daher an der Zeit, aus Verbandssicht die Entwicklung zu skizzieren, einige Begrifflichkeiten zu erläutern und die Positionierung des dbb als Dachverband darzustellen. Im noch in Arbeit befindlichen zweiten Teil wird der Fokus auf unsere Arbeitswelt, also auf unsere Bundeswehr gelegt, mit einem Schwerpunkt auf die Bundeswehrverwaltung.

Von der digitalen Lawine zur digitalen Revolution

Um die herausragende Relevanz des Themas für unsere heutige Kultur zu verdeutlichen, muss man in der menschlichen Entwicklung sehr weit zurückgehen. Die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen waren erst mit der Entwicklung der Sprache, später mit Bildern und danach mit der Nutzung von Schriften möglich. Bis zur Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks waren Lesen und Schreiben allerdings nur einem elitären Kreis möglich. Mit der Verbreitung der Bücher war die Welt eine andere. Informationen konnte nun gedruckt verteilt werden, damit wurde die allgemeine Entwicklung breiter und schneller. Im neunzehnten Jahrhundert führte diese Beschleunigung schließlich zur industriellen Revolution, denn Muskelkraft wurde durch Maschinenkraft ersetzt und die daraus resultierenden Möglichkeiten waren zuvor unvorstellbar. Die revolutionären Folgen für die Menschen kennen wir aus dem Geschichtsunterricht. Wird nun vergleichend dazu die Entwicklung von Mikroelektronik und Digitaltechnik betrachtet, finden sich Parallelen. Im Einzelnen betrachtet eher unscheinbare Entdeckungen und Erkenntnisse aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich haben eine Lawine des Fortschritts ermöglicht, die mittlerweile als digitale Revolution bezeichnet wird. Deren revolutionäre Folgen erleben wir im Hier und Jetzt.

Digital? Ist mir doch egal!

Für Gleichgültigkeit oder Frustration ist es zu spät. Jedoch, nur weil eine Situation gerade ausweg- oder alternativlos erscheint, muss das ja nicht immer so bleiben. Bei genauer Betrachtung stellt sich schnell heraus, dass wir es in diesem Fall nicht mit einer vergänglichen Modeerscheinung, sondern einer disruptiven (bahnbrechenden) Technologie zu tun haben, die alle Lebensbereiche umfasst, ob es uns passt oder nicht! In immer kürzerer Zeit ändert sich die Welt gefühlt geradezu dramatisch, nichts bleibt beim Alten. Insofern ist es angemessen, als geschichtlichen Maßstab die industrielle Revolution heranzuziehen und von einer digitalen Revolution zu sprechen. Die Herausforderung der digitalen Revolution und der wesentliche Unterschied zur industriellen Revolution ist das rasante Tempo, mit dem nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfasst werden. Hierzu gibt es historische Irrtümer, wahrlich krasse Fehleinschätzungen bedeutender Menschen, die es hätten besser wissen müssen. „Ich denke, dass es einen Weltmarkt für fünf Computer gibt!“ „E-Mails sind ein absolut unverkäufliches Produkt!“, „Facebook ist doch nur ein Verzeichnis im Web!“, „Cloud computing? Eine verrückte Modeerscheinung!“.

1965 waren kleine aufklappbare Kommunikatoren reine Science-Fiction, kurz nach der Jahrtausendwende allerdings gang und gäbe. In Deutschland nennt man das Handy. Was war die beliebteste App zur WM 2006? Das ist gefühlt nicht lange her, aber zu lange für Apps, die es damals so noch nicht gab. Kann man sich ein Leben ohne Apps heute noch vorstellen? Wohl nicht, das ist für viele mittlerweile undenkbar! Kann menschliches Leben überhaupt noch ohne Internet, ohne Google, Wikipedia, ebay, Amazon und Facebook existieren, oder wäre es nur noch ein gefühltes Dahinvegetieren? Gab es überhaupt menschliches Leben vor dem Internet? Da will man in dem einen oder anderen Fall lieber nicht die Antwort hören!

Grundlagen der Digitalisierung

Selbst „Digital Natives“, also Menschen, die über große digitale Kompetenzen verfügen, können oft nicht die Grundlagen verständlich erklären. Wir wagen es trotzdem, denken sie einfach an Musik auf Schallplatten (analog) oder zum Vergleich auf elektronischen Datenträgern (digital). Da gibt es gewisse Unterschiede. Deshalb wird es ein wenig technisch: Ein analoges (verhältnismäßiges) Signal mit stufenlosem, unterbrechungsfreiem Verlauf war lange der Standard. Die dazugehörige Signalverarbeitung ist relativ aufwändig und technisch beschränkt. Werden die Signale fein abgestuft dargestellt, sind diese Werte wie die Finger zählbar (lateinisch digitalis, zum Finger gehörend, daraus im Englischen abgeleitet digit, also Ziffer). Wenn diese Werte nun nicht im gewohnten Dezimalsystem, sondern binär oder hexadezimal dargestellt werden, kann man mit der heutigen Mikroelektronik nicht nur nahezu unvorstellbare Datenmengen rechnen, sondern die Grenzen simpler Rechenmaschinen sprengen. Zusammen mit dem Internet ergeben sich täglich neue Möglichkeiten. Daten sind die neue Währung und wer das System verstanden hat, verfügt mittlerweile über unbeschränkte Marktmacht. Man will es kaum glauben, aber Amazon hat 1994 als kleiner elektronischer Buchhändler angefangen! Amazon gehört heute zu den wertvollsten Unternehmen der Welt mit geradezu erdrückender Marktmacht. Und wo steht die deutsche öffentliche Verwaltung in der digitalen Welt?

Digitale öffentliche Verwaltung im Allgemeinen

Da war die Weihnachtsstimmung schnell vorbei. „Deutschlands Verwaltung – ein Trauerspiel“ war der Titel eines am 27. Dezember letzten Jahres veröffentlichten Artikels zum Stand der Digitalisierung in deutschen Behörden. Zuviel Förderalismus, veraltete Infrastruktur, isolierte Insellösungen, übertriebener Datenschutz und fehlender politischer Wille führten zum Absturz Deutschlands im internationalen Ranking zur Digitalisierung der Verwaltung. Offenbar wird zwar viel über Digitalisierung geredet, politisch aber noch zu wenig gemacht! Liegt es vielleicht daran, dass sich die „altmodische“ Verwaltung und die „hippe“ Computercommunity nicht wirklich verstehen, weil sie faktisch unterschiedliche Sprachen sprechen? Offenbar liegen häufig unterschiedliche Denkmuster und verschiedenartige Zielsetzungen zugrunde, denn die einschlägig bekannte Abkürzung SAP kann sehr unterschiedlich verstanden werden:
Schreib’s Auf Papier
oder
Systeme, Anwendungen und Produkte…

Unabhängige Forschung tut not!

Während die Digitalisierung als Motor der gewerblichen Wirtschaft verstanden werden kann, sieht die öffentliche Verwaltung die Digitalisierung mehr als Herausforderung, weniger als Chance. Das unabhängige Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) mit Sitz in Speyer schreibt dazu auf seiner website:

Bei der digitalen Transformation der Verwaltung wächst der Forschung eine wichtige Impuls-, Beratungs- und Unterstützungsfunktion zu: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eint ein elementares Interesse an einer wissenschaftlichen Begleitung des digitalen Wandels. Der Bestand an Literatur, die sich mit Erscheinungsformen der Digitalisierung befasst, hat in der jüngeren Vergangenheit enormen Zuwachs erfahren. Ein ganzes Arsenal an Forschungsprojekten unterschiedlichster Disziplinen wendet sich der thematischen Aufbereitung und Begleitung der digitalen Transformation zu. Das gilt in besonderer Weise für die Informatik, die Politikwissenschaft, die Soziologie und die Ökonomik. Sie begleiten den nachhaltigen Veränderungsprozess, den die Digitalisierung über Staat und Gesellschaft gebracht hat, in ihrer Breite und Tiefe mit dem Anspruch, die damit einhergehenden Auswirkungen und das Gestaltungspotenzial auszuloten. Gerade die Informatik, insbesondere die Verwaltungsinformatik, verknüpft dies immer stärker mit dem Anspruch, die ethischen und regulatorischen Implikationen technischer Veränderungen zu erfassen und darauf normative Ableitungen zu gründen.

Die Rechtswissenschaft hinkt der Entwicklung bislang wohl am weitesten hinterher. Gemessen an der Zahl rechtswissenschaftlicher Forschungseinrichtungen befasst sich nur ein verschwindend kleiner Anteil von Juristen mit Digitalisierungsfragen. Das gilt in besonderer Weise für die Staatsrechtslehre. Dabei ist gerade die deutsche Verwaltung, die traditionell von einer legalistischen Kultur geprägt ist, auf die wissenschaftliche Begleitung durch rechtswissenschaftliche Analyse angewiesen.

So ist es konsequent, dass das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) – als traditionell in besonderem Maße mit juristischem Sachverstand bestückter „Thinktank“ – einen klaren Forschungsschwerpunkt auf die Digitalisierung der Verwaltung legt: Seit Januar 2016 operiert der Programmbereich „Transformation des Staates in Zeiten der Digitalisierung“ als wissenschaftlicher Ansprechpartner für Bund und Länder in Digitalisierungsfragen.

Soweit das FÖV, dem hier stellvertretend für unabhängig Forschende auf diesem Gebiet deswegen so viel Raum gegeben wird, weil unzählige fundierte Studien und Publikationen renommierter Unternehmen ebenfalls ein Lagebild und Handlungsbedarf vermitteln, selbstverständlich uneigennützig nach dem Motto: Externe Beratung tut not! Wir liefern die beste Lösung!

Legal, digital, illegal?

Im Bundeshauptvorstand, immerhin das höchste Beschlussgremium des dbb zwischen den alle fünf Jahren stattfindenden Gewerkschaftstagen, forderte der einflussreiche dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach mit Blick auf die Digitalisierung eine offene und positive Herangehensweise. „Natürlich gibt es berechtigte Sorgen, sowohl der Beschäftigten als auch der Bürger, etwa bezüglich der Arbeitsplatzsicherheit und des Datenschutzes. Wir dürfen aber nicht in Panik verfallen. Wir haben die einmalige Chance, hier eine echte Entlastung für die Beschäftigten und damit neue Freiräume für die Beratung der Bürger zu schaffen.“ In dem Zusammenhang plädierte der Chef der Senatskanzlei in Hamburg für „offensive Digitalisierung und Automatisierung von Routineaufgaben und -abläufen.“ Demgegenüber wurde auf der 14. Frauenpolitischen Fachtagung der dbb Bundesfrauenvertretung die ernstzunehmende Sorge geäußert, dass dann staatliches Handeln nur von Algorithmen bestimmt würde. „Wie sieht es dann mit individuellen Entscheidungen aus? Wie wird Ermessenspielraum gestaltet und umgesetzt? In diesen Fragen kommen Bedenken zum Ausdruck, die wir ernst nehmen und der Politik vermitteln müssen.“

Was sind überhaupt Algorithmen? Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Damit können Algorithmen zur Ausführung in ein Computerprogramm implementiert, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden. Am Anfang war eine kluge Frau, Ada Lovelace. Schon 1843 veröffentlichte die britische Mathematikerin Ada Lovelace einen Algorithmus für einen mechanischen Computer, der Analytical Engine. Sie gilt deshalb als die Begründerin des Digitalzeitalters, als erste Programmiererin. Weil Charles Babbage seine Analytical Engine nicht vollenden konnte, wurde Ada Lovelaces Algorithmus nie darauf implementiert. Die Notizen zur Analytical Engine von Ada Lovelace beweisen jedoch, dass sie schon Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt hatte, welche Vielfalt an Möglichkeiten eines Tages in einem Computer stecken könnten. Ihrer Zeit weit voraus, hat sie bemerkenswert moderne Feststellungen getroffen. Und was ist damit heute?

Digitalisierung: Die Verwaltung lahmt

Beim neunten Meseburger Zukunftsgespräch stand ebenfalls eine Frau mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausbildung an der Spitze, keine geringere als Bundeskanzlerin Dr. Merkel. Dort musste sie sich deutliche Kritik des dbb Chefs Silberbach anhören, der fehlende politische Vorgaben für die Zukunftsfähigkeit der Verwaltung bemängelt. „Während die Wirtschaft in Sachen Digitalisierung galoppiert, trabt der öffentliche Dienst nicht mal. Er lahmt.“ Nach dem Austausch zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft führte Kollege Silberbach weiter aus: „Es ist gut, dass diese Bundesregierung dem Thema grundsätzlich eine hohe Priorität einräumt, aber jetzt muss es auch mal ans Eingemachte gehen. Wir brauchen einen konkreten Plan für die öffentliche Verwaltung in den nächsten sechs Monaten, wenn wir in dieser Legislaturperiode wirklich weiterkommen wollen.“

Dabei gehe es in erster Linie um Ausbildung und Qualifizierung. „Im öffentlichen Dienst ist immer noch der Mensch die wichtigste Ressource. Natürlich brauchen wir auch die entsprechende digitale Infrastruktur, aber ohne qualifiziertes Personal wird sie uns nicht viel nutzen. Das bedeutet: Erstens müssen wir junge Menschen mit den nötigen Vorkenntnissen in die Verwaltung holen. Zweitens müssen wir das vorhanden Personal fit für die kommenden Veränderungen machen.“ Soweit der dbb Bundesvorsitzende Silberbach in den dbb-Medien.

Fassen wir zusammen: Der Begriff Digitalisierung ist nun klarer, die weitere Entwicklung unabsehbar positiv wie negativ. Denken sie nur an Internetbanking. Früher haben diese Verwaltungstätigkeiten echte, lebende Bankangestellte in Filialen gemacht, heute macht das der Kunde am Computer in der virtuellen, also scheinbaren Filiale. Standardisieren, dann automatisieren, besser noch digitalisieren, diesem Trend wird sich die Verwaltung nicht entziehen können. Der dbb hat das erkannt und mahnt. Wer stehen bleibt, verliert den Anschluss, ohne digitalen Anschluss gibt es keine digitale Existenz. Aber ganz so dramatisch ist es in der Realität doch nicht: Die Bundeswehr ist in Bewegung, sicher nicht stehengeblieben.

Cherchez la femme!

Dahinter steckt eine Frau! Im vorliegenden Fall sind es mehrere Frauen. Ada Lovelace war die digitale Vordenkerin, Dr. Angela Merkel ist die digitale Bundeskanzlerin mit einem Digitalrat, deren Vorsitz die ehemalige Staatssekretärin Frau Dr. Suder hat. Was läuft Digitales im Verantwortungsbereich von Dr. Ursula von der Leyen? Auch so einiges, deswegen wird am Teil zwei dieser Publikation noch intensiv gearbeitet.